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Über Hildegard wissen wir mehr als über fast jede andere Frau des europäischen Mittelalters. Dennoch haben sich insbesondere in den vergangenen 50 Jahren zahlreiche Narrative etabliert, die das eigentliche Wirken der Äbtissin verfälschen. Es hat sich mittlerweile eine ganze Industrie entwickelt, die das Erbe der berühmten Benediktinerin kommerziell ausschlachtet.

So werden Rezepturen mit Dinkel sowie verschiedenste andere Kochrezepte und nicht zuletzt das sg. "Hildegard-Fasten" heute für authentische Übernahmen aus den Werken Hildegards empfunden, auch wenn davon nur sehr wenig bis gar nichts tatsächlich bei ihr zu finden ist. Unter den insgesamt etwa 270 Pflanzenkapiteln des 1. und 3. Buches der "Physica" ist der Abschnitt zum Dinkel einer der kürzeren und liegt im Umfang weit hinter Weizen, Roggen, Hafer oder Gerste. In den wenigen Zeilen findet sich genau eine Anwendung, nämlich ein Brei, der bei Appetitlosigkeit gegessen werden soll. Das ist - im Sinne Hildegards - also eine denkbar ungeeignete Speise für eine Fastenkur. Dennoch wird vielerorts vor Ostern ein "gemäßigtes Dinkelfasten nach Hildegard" angepriesen. Als gläubige Katholikin hielt Hildegard das Fasten zur seelischen Reinigung durchaus für sinnvoll, in heilkundlichem Zusammenhang schreibt sie aber nur, dass man es damit nicht übertreiben solle. Einen medizinischen Nutzen erwähnt sie hingegen überhaupt nicht.

Die von Gottfried Hertzka erfundene "Hildegard-Medizin" interpretiert die beiden natur- und heilkundlichen Schriften Hildegards als Teil des visionären Werkes, obwohl gerade die "Physica" ähnlich rational formuliert ist wie andere Naturenzyklopädien der Zeit. Dafür spricht schon alleine die Übernahme aller Stichwörter aus einem Wörterbuch. Hinweise auf göttliche Eingebung sucht man in der "Physica" - im deutlichen Gegensatz zu den drei visionären Werken - vergeblich. Auch die "Causae et curae", das zweite Werk zur Natur- und Heilkunde, setzt sich deutlich von "Scivias" (Wisse die Wege), "Liber vitae meritorum" (Buch der Lebensverdienste) oder "Liber divinorum operum" (Buch der göttlichen Werke) ab. Man findet dort letztlich mehr Aristoteles als Visionäres.

Wenn wir heute vielerorts lesen, Hildegard sei Ärztin gewesen (oder sogar die erste Frau als solche), dann zeugt dies von Unkenntnis des Hochmittelalters und des Lebens Hildegards in vielerlei Hinsicht. Während Hildegard sicherlich nie eine medizinische Ausbildung auf akademischen Niveau genossen hat (sie verwendet weder Fachbegriffe noch erwähnt sie bekannte Autoritäten), haben zur gleichen Zeit an der Schule von Salerno Dutzende Frauen gelernt und auch gelehrt. Trota von Salerno verfasste zur Lebenszeit Hildegards ein gynäkologisches Werk, welches über Jahrhunderte ein Standardwerk der Medizin war - ein Status, den die beiden natur- und heilkundlichen Werke Hildegards nie erreichen konnten. Zudem wäre es für eine Äbtissin zweier Klöster gänzlich unmöglich gewesen, auch noch die Krankenstation zu betreuen. Ob sie diese Aufgabe evtl. während ihrer Zeit in der Klause auf dem Disibodenberg ausgeübt hat, das liegt im Bereich der Spekulationen.

Das Besondere an Hildegard von Bingen beruht somit nicht auf der Qualität ihrer Medizin, die in Salerno oder der arabischen Welt zu dieser Zeit sicherlich deutlich höher war. Es ist vielmehr die Originalität ihrer Texte, die sie von anderen Autoren der Zeit abhebt. So übernimmt sie verschiedene Pflanzen wohl aus der Volksheilkunde nördlich der Alpen und liefert so die ersten bekannten Belege überhaupt für eine Reihe von heute gängigen Arzneipflanzen wie Ringelblume, Arnika oder Mariendistel. Bei Hildegard findet sich auch die wahrscheinlich älteste Beschreibung eines weiblichen Orgasmus. Ihre Variation der damals üblichen Humoralpathologie zeichnet sich insbesondere dadurch aus, dass sie die Temperamentenlehre auch für Frauen ausformuliert.

Zudem war Hildegard als Komponistin ihrer Zeit weit voraus. Ihr Mysterienspiel "Ordo virtutum" ("Reigen der Tugendkräfte“) gehört zu einer musikalischen Gattung, die eigentlich erst im Spätmittelalter richtig populär wurde. Es eignet sich sehr gut als Zugang zur visionären Gedanken- und Bilderwelt der Äbtissin. Hier ist eine komplette Aufführung des Stückes in Los Angeles aus dem Jahre 2015 zu sehen:
https://www.youtube.com/watch?v=zUMlhtoGTzY

Hildegard von Bingen ist auch heute noch, mehr als 800 Jahre nach ihrem Tod, eine sehr interessante Persönlichkeit. Aber sie taugt wenig als Projektionsfigur für die Medizin des europäischen Mittelalters und ebenso eher nicht für das Klischee eines Kräuterweibleins, das ohnehin eine moderne Erfindung ist.

Abbildung:
Darstellung der Erdkugel, auf welcher gleichzeitig verschiedene Jahreszeiten herrschen, im "Liber divinorum operum".

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