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Vorläufer der Naturheilkunde lassen sich bereits im 17. und 18. Jahrhundert nachweisen. Erstmals bezeugt ist der Begriff als Übersetzung für Physiatrik jedoch erst 1839 bei Johann Baptist Gross in der 3. Auflage von dessen "Das kalte Wasser als vorzügliches Beförderungsmittel der Gesundheit und ausgezeichnetes Heilmittel in Krankheiten."

Dort heißt es:
"Heutzutage ist man der Überzeugung, daß in der Regel das wohlthätige Ziel nicht so sehr durch die Menge künstlicher Zusammensetzungen aller möglichen Naturstoffe und Kunstgriffe, als durch einfache Gaben und hauptsächlich durch die zweckmäßige Leitung der Naturkraft zu erreichen sey. Aus diesem Grunde hat auch ein großer Theil der Aerzte sich der Physiatrik (Naturheilkunde), ein anderer selbst der Hydriatik (Kaltwasserheilkunde) ergeben oder zugewendet."

Kaltwasserimmersionen galten vor dem 18. Jahrhundert als lebensbedrohlich, man verwies auf die prominenten Todesfälle von Kaiser Barbarossa und Alexander dem Großen. Das änderte sich mit John Floyer, der um 1700 eine Kaltwasseranstalt in Lichfield eröffnete. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts schuf James Currie systematische Arbeiten zur Kaltwassertherapie, die nachfolgend gerade bei akutem Fieber angewendet wurde.

Kurz vor Johann Baptist Gross schrieb Sigmund Michael Granichstädten 1837:
"Das hier angegebene Heilverfahren nenne ich ein naturgemäßes, im Gegensatz zum künstlichen, weil es die Heilung einzig durch natürliche, einfache, dem menschlichen nicht nur zuträgliche, sondern zum Leben unentbehrliche Potenzen, durch Wasser, Luft, Licht, Bewegung und Nahrung bewirket."

Eine Definition und Nomenklatur der Naturheilkunde schuf 1848 der bayerische Arzt Lorenz Gleich. Neben Wasser nennt er "zweckmäßige Diät, Bewegung, Luft, Licht und Wärme mit Ausschluß aller sogenannten Medikamente."

Dies sollte für die gesamte Naturheilkundebewegung des 19. Jahrhunderts bis ins frühe 20. Jahrhundert programmatisch werden: Die Selbstheilungskräfte des Körpers standen im Mittelpunkt, jegliche Medikation wurde als "nicht naturgemäß" abgelehnt. Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass die um Heilpflanzen erweiterte Naturheilkunde von Sebastian Kneipp im 19. Jahrhundert teils massiv abgelehnt wurde.

Kurz vor dem 1. Weltkrieg waren in der Naturheilkundebewegung in Deutschland etwa 150.000 Menschen organisiert, sie verlor jedoch durch den Krieg und danach sehr viele ihrer Anhänger. Zulauf erhielten hingegen die Vereine für Biochemie mit 200.000 Mitgliedern Ende der 1920er. Diese orentierten sich eher an den Theorien von Hahnemann, Bach und vor allem Schüßler.

All dies verschwand durch die Gleichschaltung der Nazis und die Wirren des 2. Weltkriegs, so dass lediglich der Kneipp-Bund mit 65.000 Mitgliedern in der Nachkriegszeit noch eine größere Rolle spielte.

Dadurch veränderte sich auch die Definition von Naturheilkunde:
So spricht man seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts von den "klassischen Naturheilverfahren" oder den "fünf klassischen Säulen der Naturheilkunde" und meint damit die folgenden Therapieformen: Phytotherapie, Hydrotherapie, Bewegungstherapie, Diätetik und Ordnungstherapie.
Diese fünf Säulen kann man auch als traditionelle europäische Medizin (TEM) bezeichnen, die sich seit den griechischen Ärzten der Antike entwickelt und in unseren Breiten in der Epoche der Klostermedizin durchgesetzt hat.

Viele weitere Behandlungsmethoden werden heute gerne als Naturheilkunde bezeichnet, widersprechen jedoch sowohl der ursprünglichen als auch der heute gebräuchlichen Definition. Dazu gehören u. a. die homöopathischen Verfahren, die eher der Biochemie zuzuordnen sind, sowie daneben die klassischen fernöstlichen Systeme der Ayurveda und der TCM. Auch die Anthroposophie ist streng genommen keine Naturheilkunde.

Literatur:
Bernhard Uehleke: Ideengeschichtliche und begriffliche Vorläufer der "Naturheilkunde" im 17. und 18. Jahrhundert (2003)
Karin Kraft, Reiner Stange: Lehrbuch Naturheilverfahren (2009)
Bernhard Uehleke: Naturheilverfahren und "Traditionelle Europäische Medizin" (2007)

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