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Die Klöster des frühen und hohen Mittelalters waren Stätten der Wissenschaft, Forschung und Bildung auch auf dem Gebiet der Medizin.


Mitten in der Zeit des Niedergangs durch Völkerwanderung und große Pestwellen gründete Benedikt von Nursia (um 480–547) das Kloster „Monte Cassino“ in Süditalien, das Mutterkloster der Benediktiner. Für seine Gründung schrieb er eine umfassende Mönchsregel (die ‚Regula Benedicti’), die zum Vorbild für die Klöster in Westeuropa wurde. Deshalb gilt Benedikt als Vater des abendländischen Mönchtums.

Allgemein bekannt ist das Grundmotiv Benedikts „ora et labora“ (bete und arbeite), das wörtlich gar nicht in der ‚Regula’ steht. Eigentlich müsste es sogar „ora et labora et lege“ heißen, denn das Lesen gehörte für Benedikt zu den wichtigsten Aufgaben im Kloster. Daraus folgte, dass die Kunst des Lesens und Schreibens in den Klöstern gepflegt und weitergegeben wurde. Deshalb stiegen sie zu Zentren von Wissenschaft und Kultur auf, während die breite Mehrheit der Bevölkerung Westeuropas in den Wirren von Krieg und Pest in das Analphabetentum hinabsank.

Benedikt hat auch an die Menschen gedacht, die seine Regel nicht perfekt nachleben können und besonders an die, die krank und schwach sind. Die Pflege der Kranken wird im 36. Kapitel der Regel behandelt und zur wichtigsten Aufgabe der Ordensleute erklärt: „Die Sorge für die Kranken steht vor und über allen anderen Pflichten“, heißt es gleich im ersten Satz. Außerdem wird hier festgelegt, dass jedes Kloster eine Krankenstation und einen Pfleger haben soll, der in der Heilkunde erfahren ist. Damit wurde die Grundlage für die Epoche der Klostermedizin geschaffen.

Auch die Mönche der Ostkirche unterhielten Hospitäler; dort war die Regel des hl. Basilius maßgeblich. Die Mönche und Nonnen sammelten und schrieben nicht nur geistliche Literatur ab, sondern auch medizinische Schriften - nur deshalb sind viele Werke der Antike erhalten. Damit wurden die Klöster zu Zentren des medizinischen Wissens. Deshalb spricht man von der Epoche der Klostermedizin, wenn es um die Medizin des frühen und hohen Mittelalters geht.

 

Die Wurzeln der Klostermedizin

Die Nonnen und Mönche versuchten, die medizinischen Kenntnisse der Antike zu erhalten. Dies gelang jedoch nur teilweise, nicht zuletzt deshalb, weil der Anschluss an das Griechische verloren ging. Die großen Ärzte der Spätantike waren alle Griechen gewesen, deshalb war auch die medizinische Fachliteratur wie die Werke des Galen von Pergamon (gest. um 200 n.Chr.) in griechischer Sprache verfasst worden.

In einer zweiten Phase (11.-12. Jh.) versuchte die Klostermedizin über die Arabische Welt, die einen direkteren Zugang zu den griechischen Werken hatte, das Wissen über die antiken Ärzte zu vermehren. Damit konnte Europa auch an den neuen Erkenntnissen der arabischsprachigen Welt teilhaben.

Außerdem übernahm die Klostermedizin auch Arzneipflanzen und Therapien aus der Volksheilkunde der verschiedenen Länder, etwa aus dem keltischen und germanischen Raum. In der frühen Neuzeit setzten sich die Missionare dann auch mit der medizinischen Praxis der Völker Amerikas und Asiens auseinander. Ohne die Arbeit der Jesuiten und Franziskaner in Mittel- und Südamerika wäre das Wissen der indianischen Hochkulturen wohl völlig verloren gegangen.

Nicht zuletzt wurde in vielen Klöstern experimentiert und dokumentiert. So entstand auch in den Klöstern neues Wissen, und so sind die Rezepturen der meisten Kräuterdestillate klösterlicher Herkunft.

 

Werke der Klostermedizin

Die älteste erhaltene Handschrift im deutschsprachigen Raum wurde im letzten Jahrzehnt des 8. Jahrhunderts, zur Zeit Karls des Großen, in der Reichsabtei Lorsch bei Worms angefertigt. Es heißt deshalb ‚Lorscher Arzneibuch’. Heute wird es in der Staatsbibliothek zu Bamberg unter der Signatur Cod. med. 1 aufbewahrt.

Drei weitere Zeugnisse der Klostermedizin stammen aus der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts und dokumentieren den Anbau von Heilpflanzen in der Karolingerzeit:

1. Die Landgüterverordnung ‚Capitulare de villis’ Kaiser Karls des Großen (742–814). Im 70. und gleichzeitig letzten Kapitel wird der Anbau von 16 Baumarten und knapp 90 Gemüse- und Gewürzpflanzen sowie Heilkräutern angeordnet.

2. Einen Kräutergarten besitzt der berühmte St. Galler Klosterplan, der um das Jahr 820 auf fünf zusammengenähte Pergamentstücke gezeichnet wurde. Insgesamt finden sich dort drei Gärten, ein Obstbaumgarten mit 15 Baumarten, ein Nutzgarten für Gemüse und Küchenkräuter mit 18 Beeten und ein Kräutergarten für Heilpflanzen mit 16 Beeten, ‚Herbularius’ genannt. Außerdem wurden ein Hospital, ein Arzthaus für die Behandlungen und ein Raum für die Lagerung der Kräuter und die Herstellung der Arzneimittel, Armarium genannt, verzeichnet.

3. Der ‚Hortulus’ des Walahfrid Strabo’, ein sprachliches Kunstwerk, das in 444 Hexametern zuerst kurz die Freuden und Mühen des Gartenbaus schildert und dann 24 Pflanzen in 23 Strophen beschreibt und ihre medizinische Verwendung nennt.

 

Ein Höhepunkt der Klostermedizin: Das Lehrgedicht ‚De viribus herbarum’, genannt: der ‚Macer’ (oder 'Macer floridus')

Nach dieser ersten Blüte dauerte es lange, bis neue schriftliche Werke der Klostermedizin entstanden, wobei sicherlich manches verlorengegangen ist. In der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts schuf der Kleriker Odo Magdunensis aus dem französischen Meung an der Loire, angeregt durch den ‚Hortulus’ Walahfrids, ein neues Lehrgedicht zu über 70 Arzneipflanzen, das nach dem römischen Dichter Aemilius Macer fälschlicherweise bald 'Macer' genannt wurde. Es wurde zur beliebtesten Kräuterschrift der Klostermedizin im Mittelalter.

 

Der ‚Liber graduum’ oder ‚Liber de gradibus’ des Constantinus Africanus

Constantinus wurde wahrscheinlich in Karthago in Nordafrika um 1020 geboren und absolvierte in Kairo eine medizinische Ausbildung. Möglicherweise handelte er mit Gewürzen und Heilpflanzen. Er beherrschte sowohl Arabisch als auch Latein und vielleicht auch Griechisch und war damit in der Lage, das Wissen der arabischen Ärzte mit nach Europa zu bringen, als er um 1057 in das süditalienische Salerno kam. In der Herzogs- und Bischofsstadt gab es schon seit dem ausgehenden 10. Jahrhundert eine Art Medizinschule. Hier begann Constantinus mit seiner Übersetzungsarbeit, die er dann als Mönch (ab 1058) im nicht sehr weit entfernten Kloster Monte Cassino weiterführte. Er übertrug zentrale Werke der arabischen Medizin ins Lateinische, indem er handliche Kurzfassungen anfertigte. Einige Schriften erhielten dadurch einen eigenen Charakter. Dazu gehört der ‚Liber graduum’. Der Titel ist Programm, denn diese Arzneimittellehre bespricht in kurzen Kapiteln die Heilwirkungen von 209 Pflanzen und Mineralien in der Ordnung nach den Wirkungsgraden der Mittel. Im ersten Buch stehen also Pflanzen und andere Mittel, die im ersten Grad erwärmend oder kühlend sind usw.

Der ‚Macer’, das Lehrgedicht ‚De viribus herbarum’ des Odo Magdunensis, nutzte den ‚Liber graduum’ als Quelle, ebenso wie der deutsche 'Macer' oder wie das ‚Circa instans’, das erste europäische Arzneibuch.

 

Salerno: ‚Circa instans’ oder ‚Liber de simplici medicina’

Die medizinische Schule von Salerno wurde durch die von Constantinus Africanus bereitgestellte Literatur schnell zur wichtigsten Ausbildungsstätte Europas auf dem Gebiet der Medizin. Vor allem in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts entstanden dort neue eigenständige Lehrbücher zu den verschiedenen Gebieten der Medizin. Dabei tat sich die Ärztefamilie der Platearii besonders hervor: ein Johannes Platearius schrieb eine bedeutende Krankheitslehre mit ausführlichen Therapien, die sogenannten ‚Curae’, auch ‚Practica brevis’ genannt, obwohl dieses Lehrbuch der medizinischen Praxis keineswegs besonders kurz ist. Schon sein Vater, Johannes Platearius der Ältere, und die Mutter, die mehrmals als „Mater Platearii“ genannt wird, scheinen an der Schule mitgewirkt zu haben. In Salerno und später in Neapel spielen immer wieder Frauen in der medizinischen Ausbildung eine wichtige Rolle.

Die Schule von Salerno leistete auch Grundlegendes auf dem Gebiet der pharmazeutischen Literatur. Wahrscheinlich im zweiten Drittel des 12. Jahrhunderts entstanden drei Werke, die man als Basisliteratur des gerade entstehenden Apothekerstandes bezeichnen kann: zum einen das ‚Antidotarium Nicolai’, das bedeutendste Antidotar des Mittelalters, das eine Sammlung von 142 Rezepten bietet, wobei die einzelnen Kapitel einem festen Schema folgen. Zu diesem Werk, das auf Nicolaus Salernitanus zurückgeht, erschien bald ein Kommentar, der ‚Liber iste’, der in engem Zusammenhang mit dem ‚Circa instans’ (siehe unten) entstanden zu sein scheint und wahrscheinlich einem Mitglied der Familie der Platearii zuzuschreiben ist. Die größte Wirkung jedoch erzielte das dritte der Werke, das nach seinen einleitenden Worten ‚Circa instans’ genannt wird: „Circa instans negotium in simplicibus medicinis nostrum versatur propositum.“ (Die einfachen Arzneien darzustellen, das ist die anstehende Aufgabe, mit der mein Vorhaben sich nun beschäftigt). Als Autor wird in vielen Handschriften Matthaeus Platearius angegeben, der wohl ein Neffe des Johannes Platearius war.

Das ‚Circa instans’ wurde wahrscheinlich kurz vor 1150 zu Pergament gebracht. Es schöpft aus arabischen, lateinischen und wohl auch griechischen Quellen und aus dem ‚Liber graduum’ des Constantinus Africanus.

 

Hildegard von Bingen: ‚Causae et curae’ und ‚Physica’

Etwa ein Jahrzehnt nach der Entstehung der ersten Fassung des ‚Circa instans’ schrieb die Äbtissin Hildegard von Bingen (1098–1179) ihre medizinischen Schriften, vermutlich zwischen ihren beiden Klostergründungen. Allerdings sind diese Werke nicht in der von ihr selbst autorisierten Gesamtausgabe enthalten, weshalb sie von Teilen der Forschung zeitweise als unecht betrachtet wurden, zumal die Schriften kaum überliefert (d. h. wenig abgeschrieben) wurden. In ihrer autorisierten Vita ist jedoch zu lesen, dass sie je ein Werk zu den einfachen und den zusammengesetzten Heilmitteln verfasst habe. Im Jahr 1533 wurden in Straßburg durch Johannes Schott zwei Werke unter Hildegards Namen gedruckt: ‚Causae et curae’ und ‚Physica’. Hier handelt es sich vermutlich um die in der Vita erwähnten Schriften.

Hildegard pflegte einen ausgesprochenen Personalstil und schrieb ein ganz spezielles Latein, das sich sowohl in ihren visionären Werken als auch in den medizinischen Schriften findet; schon deshalb kann es keinen echten Zweifel an ihrer Autorschaft geben.

Die ‚Causae et curae’ (Ursachen und Behandlungen) sind eine einmalige Zusammenschau von theologischer Welterklärung und naturkundlich-medizinischer Erläuterung, in der die Leiblichkeit einschließlich der Sexualität von Mann und Frau einen erstaunlich großen Raum einnimmt. Das Werk gliedert sich in fünf Teile. Der erste Teil enthält einen Schöpfungsbericht, in dem die Bedeutung der Elemente geschildert und über den Einfluss der Winde und der Planeten auf Körper und Seele spekuliert wird. Der zweite Teil nimmt die Schöpfungsgeschichte und die Bedeutung der Elemente noch einmal auf. Dann werden die Zeugung, ferner die Konstitutionen der Menschen und Phänomene wie Schlaf und Traum sowie verschiedene Krankheiten behandelt. Erst Teil drei und vier zeigen Behandlungsmöglichkeiten zu den im zweiten Teil erklärten Krankheiten, zudem ist ein Abschnitt zur Tiermedizin enthalten. Der fünfte Teil beschreibt Kennzeichen des Lebens und des Todes, verschiedene Fieber, Bäder und schließlich den Einfluss des Mondes auf den Menschen.

Hildegards zweites heilkundliches Werk, ‚Physica’, stellt eine Beschreibung der einfachen (nicht zusammengesetzten) Heilmittel dar. Der erste Teil behandelt in etwa 230 Kapiteln Getreidearten und Kräuter. Einem kurzen Abschnitt über die Elemente schließt sich ein längerer über Bäume und Sträucher an; insgesamt werden rund 300 Pflanzenarten in ‚Physica’ behandelt. Es folgen die Tiere; den vierfüßigen Tieren (Säugetieren), den Fischen, Vögeln und Reptilien ist dabei jeweils ein eigener Traktat gewidmet. Den Schluss bilden Abhandlungen über Edelsteine, Metalle und Flüsse.

Die Pflanzen und Krankheiten werden in der Regel nur mit deutschen Namen bezeichnet. Hildegard gibt meist die sogenannten Primärqualitäten an, allerdings anders als sonst üblich; Formulierungen wie: „die Melde ist mehr kalt als warm“ finden sich weder im ‚Macer’ noch in den salernitanischen Schriften. Innerhalb des ersten Teiles lässt sich eine gewisse Bündelung von kleinen und größeren Gruppen erkennen. Die ersten Kapitel behandeln die Getreidearten und Hülsenfrüchte, also Pflanzen, die vorwiegend der Nahrung dienen. Dann folgt eine größere Gruppe von Gewürzen wie Galgant, Ingwer, Pfeffer, Kümmel, Zimt und Muskatnuss, weitere erkennbare Gruppen sind die Doldenblütler (Apiaceen), die Minze- und die Laucharten.

In ‚Physica’ mischen sich Einflüsse der Humoralpathologie, die durch Salerno und die davon ausgehende akademische Medizin noch ausgebaut worden war, mit volksmedizinischen Traditionen und sicher auch mit den ganz eigenen Betrachtungsweisen Hildegards. Weder für ‚Causae et curae’ noch für ‚Physica’ konnte die Forschung bislang direkte Übernahmen von anderen Autoren überzeugend nachweisen.

Hildegard von Bingen ist nicht nur eine herausragende Frauengestalt des Mittelalters, auch ihre medizinisch-naturkundlichen Schriften nehmen eine Ausnahmestellung in der Geschichte der Klostermedizin ein: kein anderer Autor hat eine solch enge Verbindung von Theologie, Naturphilosophie und Medizin gewagt, obwohl die Beschäftigung mit der Schöpfung, dem „Buch der Natur“, als ein zweiter Weg – nach der Bibel – der Gotteserkenntnis  galt.

Hildegard von Bingen war die letzte Autorin der Epoche der Klostermedizin. Auf den Konzilien von Clermont (1130) und Tours (1163) wurde dem Klerus verboten, ärztlich tätig zu sein, was aber keineswegs immer eingehalten wurde. Namhafte Ärzte waren Kleriker, wie Gilles de Corbeil (Aegidius Corboliensis, 1140 bis ca. 1224) oder Sigmund Albich von Prag (um 1358–1426). Auch in der Vita der Hedwig von Schlesien (1174–1243) wird z. B. ausdrücklich erwähnt, dass sie bei ihrer Erziehung im Kloster Kitzingen eine medizinische Ausbildung erhalten hat.

 

Niedergang der Klostermedizin

Die Klöster verloren allerdings ihre monopolartige Stellung auf dem Gebiet der Medizin. In Salerno und ab dem 13. Jahrhundert auch in Montpellier, Paris, Neapel und Bologna wurden Laien zu Ärzten ausgebildet, und mit seiner Medizinalordnung von Melfi (1240) hatte Kaiser Friedrich II. eine klare Aufgabentrennung von Arzt und Apotheker festgeschrieben. Die Klöster wandten sich im Verlauf des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit immer mehr der Pharmazie zu. Die Klosterheilkunde lebte in den Klosterapotheken weiter.

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